Kapitel 1

Er wird es wohl nie schaffen, geht es mir durch den Kopf. Ob er überhaupt jemals irgendwann pünktlich gekommen ist? Doch, bei der Geburt seiner Tochter war er es, wobei ich mir vorstellen könnte, dass es da auch anders gekommen wäre, hätte seine Frau Nina nicht wie wild auf die Hupe des Autos gedrückt, während sie ihre Wehen kaum noch unter Kontrolle hatte. Marcus hatte auch da mal wieder die Zeit falsch eingeschätzt und kam einfach nicht in die Pötte. Ich muss bei dem Gedanken wie schon so oft schmunzeln. Ja, das ist Marcus.

Marcus. Mein bester Freund. Nein, eigentlich war er immer mehr. Er war mein Bruder, den ich nie hatte. Seit unserem 5. Lebensjahr kennen wir uns – 30 Jahre waren wir mehr oder weniger unzertrennlich und auch, wenn wir irgendwann nicht mehr Tür an Tür wohnten – an unserer Freundschaft hat sich nie etwas geändert. Und er war auch für mich da, als ich die schwerste Zeit meines Lebens durchstehen musste: meine Scheidung. Ich war damals einfach zu blauäugig, dachte, ich hätte das perfekte Glück gefunden, als es mich wie aus heiterem Himmel traf. Mein Mann, nein, mein Ex-Mann Tom hatte mich betrogen – mit meiner besten Freundin. Für mich war es sofort klar: das ist nicht zu entschuldigen! Ich packte noch am gleichen Abend meine Sachen und zog aus. Nach diesem schrecklichen Jahr, bis beide Seiten endlich die Papiere unterschrieben hatten, wollte ich weg – einfach nur weg. Ich kündigte meinen Job und wollte meine neu gewonnene Freiheit genießen.

Jetzt stehe ich hier am Flughafen von Toronto. Manchmal will es mir einfach nicht in den Kopf. Marcus hat es tatsächlich getan und ist mit seiner Familie nach Kanada – für immer. Als er mir von seinen Plänen erzählte, bin ich in Tränen ausgebrochen, doch ich konnte ihn verstehen. Auch ich hatte schon seit Jahren mit dem Gedanken geliebäugelt, allerdings überwiegte bei mir die Angst zu versagen und Tom hatte den Job, den er sich immer gewünscht hatte.

Seit zwei Jahren sind mein bester Freund, Nina und die mittlerweile fünfjährige Mathilda in Toronto, aber erst jetzt habe ich es geschafft, sie zu besuchen. Ich freute mich riesig, sie wieder zu sehen, hatte ich doch sonst nur einmal im Jahr die Gelegenheit dazu, wenn sie ihre Familie über die Weihnachtsfeiertage besuchten.

„Nicky, tut mir so leid, dass ich zu spät bin!“ reißt mich eine vertraute Stimme aus meinen Gedanken.
„Du solltest ein ‚wieder Mal’ hinzufügen“, necke ich Marcus, als er mich zur Begrüßung stürmisch in den Arm nimmt.
„Ja, ja, ich weiß, ich werd’s nie lernen!“ grinst er zurück. „Ich hoffe, Du wartest noch nicht allzu lange.“
„Ich weiß nicht, was Du unter ‚lange’ verstehst, aber für mich sind 30 Minuten mehr als genug“, sage ich ernst.
Er weiß, dass ich es nicht böse meine und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Schön, Dich zu sehen, Nicky! Welcome to Canada!“

Als wir an seinem Haus ankommen, fühle ich mich in einen alten Hollywood-Streifen versetzt. Typisch Vorstadt mit weißem Zaun, Vorgarten und einer Veranda. Ich kannte das Haus schon von Fotos, aber in der Dezembersonne mit Schnee sah es nochmal so toll aus. Nina kommt mit Mathilda an der Hand aus dem Haus und die Kleine rennt in meine Arme.
„Mein Gott, bist Du wieder gewachsen, mein Engel!“ begrüße ich sie und sie fällt mir stürmisch um den Hals, so dass wir beide in den Schnee fallen und laut lachen müssen.
„Schneeengel, Schneeengel!“ schreit sie und kugelt sich auf dem Rasen.
„Jetzt lass Tante Nicky doch erstmal ankommen. Ihr könnt später noch Schneeengel machen“, höre ich Nina und nun habe ich endlich die Gelegenheit, auch sie zu begrüßen.

Wir reden den ganzen Tag über alte Zeiten und lachen herzlich. Nach dem Abendessen bringe ich Mathilda zu Bett und Marcus erzählt mir von seinen Plänen für mich in den nächsten Tagen.
„Wir werden morgen gleich in die Stadt gehen – oder sollte ich besser sagen ‚gleiten?“ Ich schaue erst ihn und dann Nina leicht irritiert an, doch dann dämmert es mir.
„Der Fluss in die Innenstadt von Toronto, richtig?“ Marcus nickt. „Und das ist auch wirklich sicher? Du weißt, ich bin ein kleiner Schisser.“ Ich lächle ihn ängstlich an.
„Keine Sorge, Nicky, das Eis wird jeden Tag kontrolliert. Du wirst es lieben. Das ist nichts verglichen zu den Eisdiscos von damals, wo man zwei Stunden lang im Kreis fährt. Ich hoffe, Du kannst es noch.“
Insgeheim hoffe ich das auch sehr, denn ich hatte seit Ewigkeiten keine Schlittschuhe mehr an meinen Füßen. Nina und Marcus hatten mir erzählt, dass dies eine der besten Attraktionen im Winter ist. Der Humber River friert so stark zu, dass die Behörden vor Jahren auf diese Idee gekommen sind: man parkt in den Außenbezirken der Stadt, schnallt sich Schlittschuhe an die Füße, packt die normalen Schuhe in einen Rucksack und gleitet auf dem Fluss in die City.
„Ich denke, es ist wie Fahrrad fahren“, erwidere ich nach einer Weile, was eher mich beruhigen, als Marcus’ Frage beantworten soll.

Am nächsten Morgen brechen wir schon kurz nach dem Frühstück auf. Ich spüre nichts von dem Jetlag, so dass wir das natürlich komplett ausnutzen. Ich sitze neben Mathilda auf der Rückbank des Autos und bekomme so langsam aber sicher Muffensausen. Aber wieso eigentlich? Ich war immer gut im Eislaufen. Ich konnte keine Rittberger wie Katharina Witt oder rannte einem Puck hinterher wie Michael Wolf, aber ich fühlte mich wohl auf dem glatten Untergrund. Reiß Dich zusammen, sage ich mir in Gedanken und dann schaltet Marcus auch schon den Motor ab. „Wir sind da, alles aussteigen.“ Nina hatte mir einen von ihren Rucksäcken gegeben, da diese ein extra Außenfach für Schuhe hatten, was in diesem Fall sehr praktisch war. Wir hatten nur fünf Minuten zu laufen und dann stehen wir am Ufer. Mir ist schlecht vor Aufregung, als ich Mathilda’s Hand spüre.
„Hilfst Du mir mit den Schlittschuhen?“ Ich lächle sie an und vergesse für einen Moment meinen extrem hohen Puls. Ich trage sie die Stufen nach unten, setze sie auf die Bank und während ihre Eltern mit ihren eigenen Schlittschuhen beschäftigt sind, helfe ich der Kleinen.
„Soll ich Dir auch helfen?“ strahlt sie mich an.
„Danke, mein Engel, aber ich denke, das schaffe ich schon.“
Marcus steht bereits neben mir. „Willst Du hier Wurzeln schlagen oder was?“

Die ersten paar Schritte, oder sollte ich eher sagen, Rutscher verlaufen noch etwas holprig, aber ich stelle fest, dass es wirklich wie Fahrrad fahren ist. Ich brauche nicht mal 10 Minuten und schon komme ich mir wieder vor wie damals zu Teenagerzeiten. Links und rechts am Ufer stehen kleine Buden, die zum Verweilen einladen, aber wir fahren weiter. Nina, Mathilda und Marcus fahren weiter in der Mitte, während ich mich etwas am Rand halte – nur für den Fall – als ich plötzlich hinter mir eine laute Männerstimme rufen höre.
„Sarah, nicht so schnell! Sarah, bleib stehen! Saraaaaaaaaaaah!“
Ein kleines Mädchen von vielleicht gerade mal drei Jahren saust so schnell an mir vorbei, dass mir ein eisiger Wind ins Gesicht peitscht. Gleich darauf kommt auch schon der Besitzer der Stimme in meine Nähe. Er scheint allerdings nicht mehr ganz so flink zu sein, so dass er mir nicht komplett ausweichen kann und mich beim Überholen frontal an der Schulter trifft. Ein Schmerz durchfließt meinen ganzen Körper, ich verliere das Gleichgewicht und falle unsanft auf meinen Allerwertesten.
„Können Sie nicht aufpassen?“ schreie ich ihm auf Deutsch hinterher.
Mehr als einen Blick über seine Schulter bin ich ihm nicht wert und schon ist er in der Menschenmenge verschwunden.
„Fuck“, fluche ich vor mich hin, als ich merke, wie sehr die Schulter schmerzt. Ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Bitte nicht!

Marcus und Nina kommen mit ängstlichen Blicken auf mich zu.
„Alles in Ordnung?“ fragt mich Nina.
„Meine Schulter. So ein blöder Typ konnte mir nicht ausweichen und hat mich beim Überholen an der Schulter erwischt.“
Marcus hebt eine Augenbraue. „Wieso kommt mir das so bekannt vor?“
Ich nicke. „Ich hoffe, dass es nicht genau so ist wie damals.“
In Gedanken spielt sich das Szenario von vor 15 Jahren erneut ab: damals waren wir auf einer Eisdisco in einem Ort in der Nähe unserer Heimatstadt und ein Typ erwischte mich ebenfalls an der Schulter, als er seine Runden drehte – allerdings frontal. Ich hatte höllische Schmerzen und musste noch am gleichen Abend ins Krankenhaus, wo sich herausstellte, dass meine Schulter ausgekugelt war. Unter Narkose einrenken, 3 Tage im Krankenhaus sowie 1 Woche den Arm in einer Schlinge war das Ende vom Lied. Darauf konnte ich jetzt sehr gut verzichten.
Mathilda hockt sich vor mich. „Hast Du Aua?“
Ich nicke und versuche, den Schmerz zu ignorieren, während ich ihr mit der Hand über die kalte Wange fahre.
Marcus schlingt meinen Arm um seine Schulter. „Zuerst einmal musst Du aufstehen, sonst fängst Du Dir noch ne Blasenentzündung ein.“
Er zieht mich nach oben und ich stelle fest, dass die andere Schulter nicht so sehr auf Bewegung und Erschütterung reagiert wie damals.
„Marcus, ich glaube nicht, dass die Schulter wieder ausgekugelt ist.“
„Was macht Dich da so sicher?“ fragt mich Nina.
„Naja, damals hat mir fast schon der Gedanke an den Schmerz Tränen in die Augen getrieben. Jetzt fühlt es sich eher so an wie eine Verstauchung.“
„Trotzdem sollten wir lieber ins Krankenhaus fahren, sicher ist sicher“, sagt sie eher zu Marcus als zu mir.

Wir wollen gerade los, als ich eine mir leider jetzt bekannte Stimme hinter mir höre.
„Miss, Miss! Warten Sie!“
Nina dreht sich erst zu ihm um und schaut dann mich fragend an. „Kennst Du den?“
Ich verdrehe die Augen. „Könnte sein, dass ich ihn gleich ohrfeige, wenn Du verstehst.“
Sie schmunzelt. Marcus hilft mir, mich zu drehen und ich sehe in große braune Augen eines gut gebauten Mannes. An der Hand hat er ein kleines Mädchen – der Wirbelwind von vorhin.
„Miss, es tut mir so leid wegen vorhin. Ich wollte Ihnen helfen, aber ich musste zuerst meine Tochter erwischen, sonst wär' sie mir in der Menschenmenge verloren gegangen. Geht es Ihnen gut?“
Er schaut mich fragend an und ich sehe eine Art von Angst in seinen Augen.
„Ist nicht so schlimm, wird schon wieder“, erwidere ich.
Marcus schaut mich von der Seite an. „Es geht schon wieder? Was soll das denn? Ich seh' Dir doch an der Nasenspitze an, dass Dir der Schmerz fast Tränen in die Augen treibt!“ redet er auf Deutsch auf mich ein, damit es unser Gegenüber nicht versteht.
„Marcus, ist schon gut. Ich weiß, dass er nichts dafür kann. Lass es auf sich beruhen!“
„Daddy, ist das die Frau, der Du wegen mir weh getan hast?“
„Ja, Schatz. Deswegen wollte ich zurück. Ich musste mich doch entschuldigen. Das solltest Du eigentlich auch machen.“
Die Kleine schaut mich mit großen Augen an und ich erkenne ihren Vater darin wieder. „I’m sorry, Miss!“ bringt sie mit zitternder Stimme hervor.
Ich hocke mich vor sie. „Ist schon okay, …“
„Sarah“, wirft ihr Vater ein.
„Ist schon okay, Sarah. Kann ja mal passieren. Aber Du solltest in Zukunft besser auf Deinen Daddy hören, versprochen?“
Sie nickt, doch eigentlich habe ich ihre Aufmerksamkeit in dem Moment verloren, als sie Mathilda erblickt hat, die in kleinen Kreisen etwas abseits von uns auf dem Eis tänzelt.
„Daddy???“ schaut Sarah nach oben.
„Na, geh schon, Kleines. Aber nicht wieder davonlaufen, hörst Du?“
Sie ist schon fast bei Mathilda, als sie den Daumen nach oben hält. Wir vier schauen den beiden eine Weile zu und müssen lachen.
„Miss, wie gesagt, es tut mir echt leid. Kann ich das irgendwie wieder gut machen? Vielleicht bei einem heißen Kaffee?“
Bevor ich etwas antworten kann, geht Nina dazwischen. „Im Moment ist das keine gute Idee, denn wir sind dank Ihnen gerade auf dem Weg ins Krankenhaus.“
Sie dreht Marcus und mich auf dem Eis, ruft Mathilda und schiebt uns in Richtung Parkplatz.
„Mathilda, Mathilda“, hören wir Sarah hinter uns rufen und mit Windeseile steht sie auch schon neben uns. „Das soll ich Deiner Tante von meinem Daddy geben.“
Sie drückt mir eine Visitenkarte in die Hand und gleitet elegant zurück zu ihrem Vater. „Christopher Lawson, Immobilienmakler, Mississauga“ lese ich laut vor.

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